Die Berner Konvention Teil 2: die Ausnahme vom Schutz

In Teil 1 haben wir darüber berichtet, dass die Berner Konvention rund 1’400 Pflanzen- und Tierarten schützt und so erhalten will. Insbesondere stellt die Konvention es den zuvor wolfsfreien Vertragsparteien frei, ob sie Wölfe wieder ansiedeln möchten oder nicht. Diese Option gewährt die Konvention mit Artikel 9, Absatz 1 auch für den Fall, dass die Ausdehnung ursprünglicher Wolfsgebiete zur Besiedelung zuvor wolfsfreier Regionen führt. Wie wir im folgenden zeigen.

Der Ausnahmeartikel der Berner Konvention

Der erste Absatz lautet:

Zum einen gestattet diese Norm Vertragsparteien mit ursprünglichen Wolfsgebieten – wie z.B. Italien – die Anzahl der Raubtiere zu kontrollieren und so ihre übermässige Vermehrung zu verhindern bzw. auf einem verträglichen und vernünftigen Bestand stabil zu halten. Zum anderen können zuvor wolfsfreie Länder damit verhindern, dass überbordende ursprüngliche Wolfsgebiete bis auf ihr Territorium überschwappen.

Der Begriff Population

Schauen wir uns diesen Ausnahmeartikel näher an. Dabei ist zunächst von Interesse, was mit dem Begriff „Population“ gemeint ist, denn die Ausnahme darf ihr nicht schaden.

Definition der Ökologen:

1. Als Population wird in der Ökologie die Gesamtheit aller Individuen einer Art bezeichnet, die ein zusammenhängendes Areal besiedeln und damit geographisch von anderen Populationen getrennt sind (Separation). Innerhalb des Areals kann die Art in unterschiedlicher Dichte auftreten und Verbreitungslücken aufweisen (Spektrum Lexikon, Nentwig et al. 2011). Das Verbreitungsgebiet einer Population ist selbstverständlich nicht an Landesgrenzen gebunden.

Die Definitionen der International Union for Conservation of Nature, kurz IUCN, lauten folgendermassen:

2. Eine Population ist die Summe aller Individuen einer Art, d.h., die weltweite Population.

3. Eine Teilpopulation ist ein geografisch oder anderweitig abgegrenzter Teil der (weltweiten) Population, der einen geringen genetischen Austausch mit anderen Populationen aufweist, d.h. pro Jahr üblicherweise ein oder weniger Individuen erfolgreich zuwandern.

Die IUCN kümmert sich um den weltweiten Arterhalt von Pflanzen und Tieren, was obige Definition in Punkt 2 erklärt. Die Teilpopulation gemäss Punkt 3 entspricht offenbar dem Populationsbegriff der Ökologen von Punkt 1.

Die Berner Konvention fordert in Artikel 2, dass die Vertragsparteien die erforderlichen Massnahmen ergreifen, um „die Population der wildlebenden Pflanzen und Tiere auf einem Stand zu erhalten oder auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht„. Der Begriff „Population“ wird also im Singular verwendet und damit im Sinn der Definition der IUCN. Im Fall der Art Grauwolf ist demnach die gesamte europäische Grauwolfpopulation gemeint.

Abbildung 1: Die dunkelblauen Gebiete zeigen die ursprüngliche Verbreitung der europäischen Grauwölfe im Jahr 1980.

Abbildung 1 zeigt die Verbreitung der europäischen Grauwölfe über mehrere Jahrhunderte. Zum Unterzeichnungszeitpunkt der Berner Konvention 1979 bestand die zu erhaltende europäische Wolfspopulation aus drei Teilpopulationen, welche der Definition der IUCN entsprechen: die grösste lag im Osten, und zwei weitere in Italien und auf der iberischen Halbinsel. Für den von der Berner Konvention geforderten Arterhalt der Grauwölfe in Europa würde laut IUCN bereits die Teilpopulation im Osten völlig ausreichen (siehe Teil 1 unserer Serie). Gemäss dem international anerkannten Wolfsexperten Boitani kann sogar eine Bestandesgrösse von lediglich 100 Tieren langfristig überleben (Mech&Boitani 2003), siehe auch Exkurs weiter unten.

Der Bestand der beiden Teilpopulationen in Italien und Spanien ist von ganz alleine wieder angewachsen; in Italien von rund 100 in den Siebzigerjahren auf heute über 2’000 Wölfe; auch in Spanien gibt es heute über 2’500 Wölfe. Damit ist der Arterhalt der europäischen Grauwölfe bereits seit längerem gesichert.

Das Ziel der Konvention ist also erreicht; eine Besiedelung weiterer Gebiete zum Arterhalt ist nicht erforderlich.

Die Wiederbesiedlung wolfsfreier Gebiete

Wie Abbildung 1 zeigt, liegen zwischen den drei Teilpopulationen von 1980 wolfsfreie Gebiete, u.a. in Mitteleuropa und Frankreich. Die Bevölkerung dieser Staaten hatte beschlossen, keine Wölfe mehr in ihrem Lebensraum zu dulden, und nahm viel Arbeit und Mühsal auf sich, um die Raubtiere bis auf das letzte Exemplar aus ihrer Kulturlandschaft zu entfernen. Anders verhielt sich u.a. die Bevölkerung in Italien oder Spanien: sie war dazu bereit, weiterhin einen Teil ihres Lebensraumes mit den Wölfen zu teilen.

Ausgehend von obiger Situation existieren zwei Möglichkeiten, wie Wölfe nach 1980 in zuvor wolfsfreien Gebieten wieder Fuss fassen können:

1. Die Wölfe werden aktiv wiederangesiedelt, indem ein paar Tiere von Menschen in das wolfsfreie Gebiet gebracht werden, oder

2. das ursprüngliche Verbreitungsgebiet wächst an, so dass die Wölfe mehr Platz brauchen und sich immer weiter auf benachbarte, zuvor wolfsfreie Gebiete ausdehnen.

Für Inselstaaten wie Grossbritannien oder Irland kommt nur die Möglichkeit 1 für eine Wiederbesiedlung in Betracht. Artikel 11 (siehe auch Teil 1 unserer Serie) stellt es den Vertragspartnern jedoch frei, ob sie Wölfe aktiv wiederansiedeln wollen oder nicht. Wie wir wissen, haben sich alle europäischen Inselstaaten dagegen entschieden.

Für die Vertragsparteien auf dem europäischen Festland kommen hingegen beide Möglichkeiten in Frage. Soweit uns bekannt ist, hat bisher keine Partei Wölfe aktiv wiederangesiedelt, zumindest nicht offiziell.
Anscheinend schreckt sogar die Wolfslobby vor einer offiziellen Wiederansiedlung zurück; zum einen, weil von der betroffenen Bevölkerung bei diesem Vorgehen eher Widerstand zu erwarten ist; und zum anderen, weil sie dann die Erfüllung der Voraussetzungen von Artikel 11 der Konvention nachzuweisen hätten.
2012 bildete sich aus heiterem Himmel ein Rudel in Graubünden, nachdem zuvor rund 20 Jahre lang regelmässig nur Einzeltiere ein- oder durchgewandert waren, und der Bestand stets sehr gering war (siehe auch Abbildung 2). Die genauen Umstände, warum sich nach so langer Zeit ausgerechnet am Calanda das erste Rudel auf Schweizer Boden gebildet hat, werden wohl nie ans Licht kommen.

Abbildung 2: Entwicklung der Anzahl Wölfe in der Schweiz zwischen 1994 und 2022. Quelle: KORA

Laut IUCN und anderen Experten sind diese Wölfe durch eine Ausdehnung der Italienischen Teilpopulation in die Schweiz gelangt. Folglich gehören alle Wölfe in unserem Land zu dieser Teilpopulation. Womit gemäss Artikel 9 der Konvention für diese „betreffende Population“ der Europäischen Grauwolfpopulation eine Ausnahme beansprucht werden kann; laut diesem Artikel ist es auch zweifelsfrei zulässig, die Wölfe, die sich in unserem Land angesiedelt haben, zu regulieren. Analoges gilt übrigens u.a. auch für alle Wölfe in Frankreich.
Nun greift die Wolfslobby jedoch zu einem fiesen Bubentrick, und behauptet willkürlich und im Widerspruch zu den etablierten Definitionen, es handle sich hier um zwei Teilpopulationen – die Italienische Population, und die frei erfundene Alpenpopulation. Dies mit der absurden Begründung, die beiden würden sich in ihrem ökologischen und sozioökonomischen Kontext derart unterscheiden, dass eine Trennung in zwei funktionale Populationseinheiten „für Managementzwecke“ gerechtfertigt sei (siehe hier). Mit diesem Trick versucht die Wolfslobby, den bisher wolfsfreien Gebieten eine Wolfspopulation aufzuzwingen, mit der von der IUCN geforderten Mindestgrösse von 1000 Tieren.
Was immer diese gestelzte Formulierung bedeuten mag: In der Berner Konvention existieren „funktionale Populationseinheiten für Managementzwecke“ nicht. Für die Vertragspartner gelten ausschliesslich die darin enthaltenen Normen und Formulierungen. Und was mit „betreffende Population“ in Artikel 9 gemeint ist, haben wir bereits hinreichend dargelegt.
Die Ausdehnung bis auf unser Staatsgebiet ist nota bene nur dem Umstand zu verdanken, dass die Italiener von Artikel 9 so gut wie nie Gebrauch machten bzw. ihre Wölfe kaum regulieren. Sogar die Entnahme aller in der Schweiz lebenden Wölfe könnte der betreffenden Population nicht schaden. Weder der Italienischen, geschweige denn der Europäischen.

Leider steht der Entnahme aller Wölfe hierzulande noch die nationale Gesetzgebung im Weg. Die Beamten des BAFU haben die Inanspruchnahme und Vollstreckung von Ausnahmen ohne zwingenden Grund massiv erschwert und beschränkt, sodass Abschüsse so gut wie verunmöglicht werden.

Welche Ausnahmen von Artikel 9 stattdessen regulär geltend gemacht werden können, darüber berichten wir in Teil 3.

Fazit: Den Begründern der Berner Konvention lag die europäische Biodiversität am Herzen. Sie waren keine Raubtierfanatiker. Das bestätigt auch der Umstand, dass die Konvention den Vertragsparteien die Entscheidungsfreiheit gibt, ob und wieviele schädliche bzw. gefährliche Raubtiere sie in ihrem zuvor wolfsfreien Land dulden möchten. Damit nimmt die Konvention Rücksicht auf die Bedürfnisse der Menschen und Haustiere in der Kulturlandschaft.
Anders verhält es sich bei der Wolfslobby, wie der Large Carnivore Initiative for Europe, kurz LCIE – siehe dazu auch das spannende Dokument von Georges Stoffel. Selbstredend fokussieren diese Leute nur auf Grossraubtiere. Die Biodiversität oder Rücksichtnahme auf andere spielt für sie keinerlei Rolle. Sie täuschen vor, die Konvention bezwecke die flächendeckende, omnipräsente Ausbreitung der Wölfe in Europa, und missionieren dementsprechend bei den Medien, Politikern und anderen Verantwortlichen. Leider nehmen ihnen (zu) viele diese Lügen ab. Vermutlich wird inzwischen auch der Ständige Ausschuss der Berner Konvention vom LCIE beeinflusst. Und es steht wohl auch so mancher korrupte Entscheidungsträger aus Politik und Verwaltung auf der Gehaltsliste dieser Organisation. Anders lässt sich jedenfalls nicht erklären, warum es einer kleinen, militanten Minderheit seit Jahrzehnten erfolgreich gelingt, ihre schädliche Grossraubtieragenda gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit durchzusetzen.

Exkurs: Der günstige Erhaltungszustand

Damit eine Population längerfristig überlebensfähig ist, wird für sie ein „günstiger Erhaltungszustand“ gefordert. Experten diskutieren diesen Wert für Tierpopulationen kontrovers. Es kursieren verschiedenste Zahlen dazu, die zwischen rund 150 und 1000 liegen (die Zahl 1000 wird u.a. bei der IUCN genannt). Prinzipiell sind Werte, die auf Simulationen bzw. Modellen und theoretischen Annahmen basieren höher, als solche, die sich auf Beobachtungen wildlebender Populationen stützen.

Wölfe sind keine empfindliche Art, die auf ganz spezielle Umweltbedingungen angewiesen sind. Vielmehr erweisen sie sich als äusserst anpassungsfähige, robuste Kulturfolger und Opportunisten, die sich in der Kulturlandschaft bei fehlender Regulierung rasant vermehren. Sie können bis zu 1000 Kilometer weit wandern, und sich so über sehr weite Distanzen genetisch austauschen. Experten bestätigen, dass es keinerlei Belege gibt, dass die genetische Vielfalt wilder Wölfe jemals – d.h., auch nicht in den den vergangenen 200 Jahren – bedroht war (Mech&Boitani, 2003).

Wildlebende Wölfe, Beispiel 1: Die Wölfe auf der Isle Royale

Die Insel Isle Royale liegt rund 25 km vom kanadischen Festland entfernt, in einem der grossen Seen Nordamerikas. Auf die 55’000 Hektaren grosse Insel wanderte 1949 ein Wolfspaar ein, als der See dazumal zugefroren war. Trotz der Isolation haben diese Wölfe bis heute überlebt (siehe Abbildung unten). Sie ernähren sich vorwiegend von Elchen. Haustiere gibt es dort nicht, da es ein Nationalpark ist.

Abbildung 3: Entwicklung der Anzahl Wölfe auf der Isle Royale bis 2019. Ab 1980 mit Entwicklung der Elche. Quellen: Heurich 1996 und National Park Service Isle Royale.

Wie das Inselbeispiel zeigt, ist auch eine minimale Teilpopulation über 80 Jahre lang überlebensfähig, obwohl sie nur von einem einzigen Weibchen abstammt und in einer Wildnis lebt – man denke an die Arche Noah 😉 Die Parkverantwortlichen setzten 2018 übrigens vier neue Wölfe aus, um die Inselpopulation aufzufrischen und deren Überlebenschancen zu verbessern. Soviel zum Thema Natur. Die Raubtierfans spielen überall Gott und mischen sich ein, obwohl sie dazu keine Berechtigung haben.

Wildlebende Wölfe, Beispiel 2: Wölfe in Italien

In den 70iger Jahren lebten in den Abruzzen noch rund 100 Wölfe, die vermutlich seit etwa 150 Jahren weitgehend isoliert waren. Nachdem mit der Berner Konvention ein strenger Wolfsschutz installiert war, erholte sich diese Teilpopulation auf mehr als 2000 Tiere. Boitani ortet bei einer Anzahl von 100 Tieren keine Probleme, und lobt sogar die Überlebensfähigkeit der itaIienischen Wölfe (Mech&Boitani 2003).

Wildlebende Vögel, Beispiel 3: Studie mit Vögeln

Briskie und Macintosh fanden bei Vögeln, dass diese mindestens 150 Individuen umfassen sollten, um ohne Austausch mit anderen Populationen einen überlebensfähigen Bestand erhalten zu können (Briskie & Macintosh, 2004).

Fazit Exkurs: Wie gross soll nun die Europäische Grauwolfpopulation sein? Das lässt sich nicht abschliessend beantworten. Es existieren jedoch reale Beispiele, die zeigen, dass wildlebende Tiere mit 100-150 Individuen längerfristig überlebensfähig sind, sogar solche, die mit nur zwei angefangen haben. Damit sind die von der IUCN geforderten 1000 Wölfe mehr als genug.
Die Fakten verdeutlichen: Die europäischen Grauwölfe – und damit ihre Art – war noch nie vom Aussterben bedroht. Sie hat über 200 Jahre ohne Berner Konvention bzw. Wolfslobby auf unserem Kontinent überstanden. Und das bestens ohne sich in den bisher wolfsfreien Gebieten zu vermehren. Alleine im europäischen Teil Russlands waren es im Jahr 1978 gemäss Stubbe etwa 25’000 Wölfe. Das wäre problemlos auch die nächsten paar hundert Jahre so weitergegangen, Stichwort Isle Royale. Grauwölfe überleben in den Weiten des Ostens womöglich sogar die Menschheit. Zumindestens bis zum nächsten grossen Meteroiteneinschlag.

Sie brauchen die Kulturlandschaft Mitteleuropas nicht
als zusätzliches Vermehrungsgebiet.
Das schreibt die Berner Konvention auch nicht vor.

Referenzen

Briskie, J., Mackintosh, M., (2004), Hatching failure increases with severity of population bottlenecks in birds, Proc Natl Acad Sci 101(2).

Heurich, M., (1996), Räuber Beute Forschung auf der Isle Royale, AFZ Der Wald 19

Mech, L., Boitani, L., (2003), Wolves, The University of Chicago Press.

Nentwig, W., et al. (2011), Ökologie kompakt, 3. Auflage, Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg

Ein Kommentar

  1. Annette said:

    …deshalb hat auch das Sekretariat des ständigen Ausschusses der Berner Konvention der Schweiz in einem ofiziellen Brief mitgeteilt, dass es nicht nötig sei, die Wölfe so streng zu schützen. Vielmehr wurde in Betracht gezogen, das Norwegische Wolfsmanagement auch in der Schweiz anzuwenden….Norwegen duldet nur drei Reproduktionen jährlich auf eigenem Gebiet, in der „Managementzone“ und zwei Würfe aus grenzüberschreitenden Rudeln. Der Rest wird bejagt…

    27. August 2023
    Reply

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